Morgens um 06:40 Uhr sollte der Wecker klingeln – doch ich kam ihm zuvor und wachte ungewohnterweise bereits morgens um 06:35 Uhr auf. Das muß eine Art innere Angst sein, daß mich sonst der Wecker wecken könnte, sonst würde ich nie um solch eine Uhrzeit aufwachen. Die Taschen waren gepackt, ich zog die Fahrradklamotten an und füllte die Getränkevorräte auf. Alle Taschen wurden am Rad befestigt, dann ging es auf zum Hauptbahnhof. Treffen mit Manuel um 07:50 Uhr.
Um 07:49 Uhr (das nenn ich Timing!) rollte ich in die Vorhalle des Hauptbahnhofs. Da Manuel nicht ganz pünktlich war entschied ich mich, die Fahrkarten bereits zu kaufen. Leider überlistete mich die Nutzerführung des Fahrkartenautomaten und ich hielt anstelle von zwei Fahrkarten und zwei Fahrradkarten drei Fahrkarten und eine Fahrradkarte in der Hand. Manuel tauchte in diesem Moment auch auf, kurz nach acht Uhr – der Zug sollte um 08:14 Uhr gehen. An der Information verwies man mich zum Tausch der Fahrkarte auf das Reisezentrum im ersten Stock. Manuel wartete beiden Rädern, ich tauschte die Fahrkarte um. Elf Minuten nach acht. Die Fahrstühle zu unserem Gleis reden immer erstmal eine Weile, bevor sie die Türen öffnen. Unser Zug steht bereits zur Abfahrt bereit. Mit großer Eile erreichen wir noch das erstaunliche volle Fahrradabteil. Sitzplätze sind mit einem Liegerad ja zum Glück kein Problem, sowas hat man ja immer dabei…
In Fürstenberg (Havel) steigen wir aus und können endlich losfahren. Die Sonne scheint, die Temperatur steigt langsam in angenehme Regionen. Wir pedalieren in Richtung Norden, als nächstes steht Neustrelitz auf dem Plan.
Irgendwo zwischen Fürstenberg und Neustrelitz fällt plötzlich Manuels Tacho aus. Nach kurzer Fehlersuche ist der Grund klar: Das Kabel zum Sensor war wegen des langen Federwegs der Gabel am Vorderrad so großzügig verlegt, daß es im eingefedertem Zustand den Reifen berührte – und so durchgeschliffen war. Da war auf die Schnelle nichts zu wollen, also ging es weiter.
In Neustrelitz versorgten wir uns an einer Tankstelle mit ein paar Updates für das anstehende Frühstück, dann ging es weiter in Richtung Penzlin. Kurz hinter Neustrelitz bogen wir von der B193 kurz in einen Wirtschaftsweg ab, settelten unsere Räder in den Schatten und uns daneben und genossen ein Frühstück. Anschließend fuhren wir weiter auf der Bundesstraße 193 bis Penzlin (nächste Tanke: Entsorgung und eine Bionade) und bogen auf die B192 ab nach Waren/Müritz ab. Keinem von uns war klar gewesen, wie hügelig Meckelnburg-Vorpommern so sein kann – und Manuel begann langsam zu spüren, daß ich ihm eine Saison (plus Wintertraining) auf dem Liegerad voraus war.
Während sich Autofahrer eher über die langsamen Hindernisse auf ihrer Straße ärgerten erlebten wir bei Klein Plasten begeisterte Zustimmung zu unseren seltsamen Fahrzeugen: Ein parallel fahrender Güterzug hupte und der Lokführer winkte uns zu!
Kurz vor Waren beschlossen wir gemeinsam, daß Manuel die Strecke bis Rostock besser mit der Bahn zurücklegen sollte. Telefonisch leiteten wir Lars dann zum dortigen Stadthafen um. Ich winkte Manuel noch einmal zu, während er auf den Zug wartete und ich auf der anderen Seite des Bahnhofs meinen Weg über Teterow nach Rostock antrat. Dann war ich alleine auf der Strecke. Fast 100km bis Rostock lagen noch vor mir. Die Hügel wurden langsam anstrengender. Immer nur 30-50 Höhenmeter, aber die dafür in ständiger Wiederholung.
Die Sonne glühte über mir, die Hitze flirrte über dem Asphalt. Ich fuhr zwischen grünen Feldern und dem gelben Raps hindurch („Teletubbies gone Yellow„) und versuchte hochzurechnen, wie lange ich noch brauchen würde. Ich hörte auf die Steigungen zu zählen. Ich wollte zum Meer. Das letzte Stück mußte also eine Abfahrt sein. Das sagte ich mir immer zum Trost, wenn der Höhenmesser im GPS schleppend aufwärts zählte. Und ich machte meinen zweiten großen Fehler an diesem Tag (zum ersten kommen wir später…) – beim fast tranceartigen Pedalieren ließ ich mich hinreißen von den Landschaften, vom Ehrgeiz, die nächste Steigung zu schaffen, vom Gefühl, das nächste Gefälle mit mehr als 50 km/h bergab zu schießen … und vergaß zu essen. Ich mißachtete die Warnzeichen meines Körpers, daß die Kohlehydratversorgung nicht mehr optimal war. Und dann, an einer Bushaltestelle stieg ich vom Rad, mit zitternden Knieen. Die drei Schritte in den Wald zum Pinkeln waren eine Anstrengung. Ich wusch meine Hände. Dann erstmal zwei Powerbars, einen halben Liter Zitronentee und noch etwas Wasser reinziehen. Fünf Minuten im Schatten sitzen neben dem Rad. Dann fingen die Super-Zündis an zu wirken (sprich: Der erste Zucker aus den Powerbars und dem Getränk richtete mich wieder auf). Drauf auf’s Rad, den Schub ausnutzen. Ich ärgerte mich über mich selbst, über diesen dämlichen Fehler.
Ich kam meinem Ziel schon zum Greifen nahe, Rostock war zum Greifen nahe, beging ich Fehler Nummer drei an diesem Tag: Ich folgte bei Laage nicht der Bundesstraße, sondern einem ausgeschilderten Radweg. Kleine Siedlungen, der Weg schlug Haken, die Beschilderung setzte sich nicht sinnvoll fort. Ich mußte mich durchfragen. Schotterwege drückten meinen Schnitt, ich hatte das Gefühl, nicht mehr vorwärts zu kommen. Warum hörte ich nicht auf meine innere Stimme, warum folgte ich nicht dem GPS? Jetzt war es zu spät, jetzt mußte ich das durchstehen. Und endlihc kam ich wieder auf die Bundesstraße. Und nach Rostock hinein. Schnell runter zum Hafen – und dort saßen Lars und Manuel schon total entspannt und warteten auf mich.
Ich wollte eine kleine Pause einlegen und so gab es Fischbrötchen für alle als Wegzehrung für die letzten 25km von Rostock nach Graal-Müritz. Mit drei Liegerädern durch den Stadthafen zu rauschen machte schon Spaß, wir hatten durchaus Publikum. Dann ging es dem ausgeschilderten Radweg nach Graal-Müritz nach, aber irgendwo müssen wir eine (schlecht ausgeschilderte…) Abzweigung verpaßt haben, denn unser kleines Geschwader schoß in geschlossener Formation durch den Industriehafen. An dieser Stelel vertraute ich dann doch lieber dem radwegrouting der Openstreetmap auf meinem Garmin und wir waren in Lürze wieder auf ordentlichen Straßen bzw. radwegen unterwegs und näherten uns dem Ziel.
Bei einer kleinen Pinkel- und Umziehpause (es wurde mittlerweile kühl und zu dunkel für die Sonnebrille) flitzte eine Skaterin an uns vorbei – und es kam keine der üblichen Fragen und so konnte ich nur mit einem überraschten „Nein“ kontern. Nicht die Frage nach der Bequemlichkeit, dem Preis, ob es selbstgebaut sei und man nicht umfiele – nein, einfach nur: „Cordes?“ (für nicht-Liegeradler: Jan Cordes ist einer der renommiertesten Liegeradhändler in Deutschland).
In Graal-Müritz angekommen steuerten wir, gewarnt bezüglich der Öffnungszeiten, den nächsten Italiener an und sorgten für ein Abendessen. Die Nudeln mit der Bezeichnung Diavolo sind auch wirklich scharf – so lob ich mir das!
Anschließend galt es, unsere Herberge zu finden. Wir fuhren grob in die Richtung, schlugen ein paar Haken und als ich gerade die von Jörn zur Verfügung gestellte Karte studieren wollte rief selbiger auch schon an an lotste und dank Live-Tracking gezielt an die richtige Stelle. Manchmal ist die moderne Technik eben doch für irgendwas gut!
Endlich angekommen parkten wir die Räder an sicherer Stelle und breiteten uns aus. Eine der ersten Aktionen war das Anheizen der Sauna – die hatten wir uns verdient! Sowohl Lars (227 km) als auch ich (201 km) hatten unsere Etappenrekorde aufgestellt und auch Manuel war in Anbetracht der mißlichen Lage mich als wesentlich trainierteren Fahrer vor sich zu haben und noch ein wenig von einer Ohrentzündung geschlaucht zu sein tapfer gefahren.
Nach einem gemütlichen Abend und einem langen Tag ging es gegen zwei Uhr ins Bett.