Die Entscheidung es in diesem Jahr auch nochmal mit dem Zeitfahren Hamburg-Berlin zu versuchen, fiel kurzfristig. Sehr kurzfristig, was die Anmeldefrist angeht, aber auch was etwaige Vorbereitung angeht. Das bezieht sich weniger auf sportliche Vorbereitung, meine Urlaubstour Südwest 2011 dürfte da schon nicht ganz verkehrt gewesen sein, als mehr auf Zugverbindung, Unterkunft, erprobte Ideen der Energiezufuhr während des Fahrens auf so einer langen Strecke. Aber dazu später mehr.
Unterkunft hatte ich bei Lars gefunden, der auch an den Start ging und daher mit dem frühen Aufstehen am Samstag Morgen keine Probleme hatte. Oder sagen wir: Durch mich keine bekam, die er so nicht bereits gehabt hätte oder durch @velolars, der auch dabei war.
Um 4 Uhr morgens klingelte der Wecker, müde schlichen wir durch die Gegend. Es gab Frühstück, der Reifendruck wurde kontrolliert und die spärlichen Gepäckstücke zusammengestellt, bis um kurz nach fünf das bestellte Großraumtaxi kam, das uns nach Altengamme bringen sollte. Da mein M5 mit der Heckverkleidung etwas unhandlich ist, dauerte das Einladen etwas länger, alles in allem waren wir erst gegen 6 Uhr in Altengamme.
Das Anmeldezelt war zurm Glück leer, trotz der in diesem Jahr mehr als 270 angemeldeten Starter. Was allerdings auffiel: Das Gras am Rande der feuchten Straße knackte unter den Schuhen, wegen der Eisschicht, die sich auch auf den Straßenbegrenzungspfählen gebildet hatte. Eineinhalb Stunden bis Sonnenaufgang, Kälte, Eis, Nebel. Ich begann mich ernsthaft zu fragen, worauf ich mich da eingelassen hatte – und begab mich erstmal ins geheizte Haus zum Frühstück.
Während das Team aus den beiden Larsen um 06:38 Uhr startete, lag meine Startzeit eine Stunde später, wenige Minuten vor Sonnenaufgang. Nachdem ich die beiden verabschiedet hatte, blieb mir also noch genügend Zeit, mich zu wärmen und auf etwas Licht vor dem Fenster zu warten.
Dieses stieg langsam empor und gab den Blick auf die umliegenden Wiesen frei, die weiß von einem Rauhreif-Schleier unter Nebelschwaden hervorlugten. Als ich um 20 Minuten nach sieben hinausging, um das GPS zu starten und das Rad zum Start zu schieben, zeigte das Thermometer 0°C, es war aber hell genug, als daß ich auf die Nutzung des Frontlichts verzichtete und lediglich das Rücklicht einschaltete für eine bessere Sichtbarkeit von hinten.
Nach dem Start ging es zuerst über die Brücke bei Geesthacht, von dort auf den Elbdeich. Während ich vom vor mir gestarteten Liegerad von David nur noch kurz das Rücklicht sah, überholte ich zumindest ein paar andere Teilnehmer. Die schnellen Gruppen waren meist schon deutlich früher weg und die nach mir startenden Velomobile verzichteten auf den Deich und nahmen lieber die Straßenstrecke.
Das Thermometer bleibt wie festgenagelt auf 0°C, feuchte Schleier liegen über der Landschaft, aber erst als es hinter Hohnstorf über die Felder geht, wird der Nebel so dicht, daß die Autos kaum noch schneller als die Radfahrer fahren – und sich ein nasser Schleier auf allem absetzt: Rad, Kleidung, Brille. Das ist der Zeitpunkt, an dem ich froh bin, daß meine Fahrradbrille tags zuvor kaputt ging und ich das Gestell nur als Halterung für den Spiegel nutze und keine Gläser habe: Selbst vom kleinen Brillenspiegel tropft stetig Wasser. An den Metallführungen der Schaltzüge am Lenker beginnt das Wasser gar zu gefrieren. Meine Hände sind trotz Handschuhen eiskalt. Und als ich eine kurz Pinkelpause einlege, habe ich schon Schwierigkeiten, meine Finger zu bewegen – und rustche auf dem Asphalt der Straße, wo das Wasser auch beginnt zu kristallisieren fast aus. Normales Fahren geht, aber abrupte Brems- oder Lenkmanöver sind hier nicht ratsam.
An den Steigungen bei Hitzacker wird mir richtig warm, aber ich versuche notfalls so langsam hochzufahren, daß ich nicht anfange zu schwitzen, das könnte auf den folgenden Fahrt fatale Folgen haben. Bei einer der steileren Abfahrten stehen 70 km/h auf dem Tacho, das Wasser vom Lenker und bei einer Bodenwelle kleinere Eiskrümel fliegen mir ins Gesicht. Doch langsam lichtet sich der Nebel, die Sonne bricht durch und innerhalb kürzester Zeit steigt das Thermometer, das im Wald auf -1°C gesunken war, auf 3°C bis 4°C. Klingt nicht viel, ist gefühlt aber ein echter Fortschritt.
Ein kleines Problem tut sich allerdings auf: Gerade in Zusammenhang mit der Feuchtigkeit ist das rechte Klickpedal zu locker eingestellt. Zweimal lande ich durch versehentliches Ausklicken – zum Glück ohne Sturz – bei über 35km/h im Gras.
An der Kontrollstelle in Dömitz bin ich 10 Minuten früher als erwartet, ich sollte also im Folgenden etwas Geschwindigkeit rausnehmen. Und ich nehme mir etwas Zeit für die Pause dort, ziehe auch erstmal die Klicks etwas fester an. Meine oberste Priorität heißt ankommen, die zweite bei Licht, die dritte heißt: mal sehen, ob 10 Stunden zu machen sind. Mir fällt allerdings auf, daß ich, obwohl ich weiß, daß ich dringend essen müßte, kaum Appetit habe und mich schwertue, Brot und Banane zu essen. Zur Sicherheheit gibt es noch ein Gel, aber auch das ist natürlich nicht nachhaltig.
Weiter geht es, es rollt gut, sobald ich aus Dömitz raus bin, ich komme mit guter Geschwindigkeit voran, obwohl der Gegenwind langsam auffrischt. Ich bekomme diesen auf dem tiefen Liegerad aber natürlich deutlich weniger zu spüren, als die Aufrechtradler, die dafür in Gruppen fahren und sich im Wind abwechseln.
Es nähert sich Kilometer 140. Bergfest, Halbzeit! Zwar nicht von der Zeit her, das ist klar, aber ab jetzt zählen die Kilometer im Kopf irgendwie runter. Ich hab mehr gefahren, als noch kommen wird. Fühlt sich gut an. Das Ausklicken fühlte sich allerdings nicht gut an, irgendwie habe ich mein Knie etwas verdreht dabei.
Nach einer Riegelpause in der Sonne geht es weiter und ich spüre das Knie auch beim Fahren. Langsamer. Vergessen wir die zehn Stunden, ankommen ist das Ziel. Am besten aber noch im Hellen.
Nach dem Durchqueren einer Baustelle wird es noch schwerer, als mir eine Gruppe, die kurz vor mir durch die Baustelle lief, gerade entgegenkommt, frage ich, ob da noch eine Sperrung sei. „Nein, wir gehen nur ins Café – wenn Du gewinnen willst, dann solltest weiter fahren!“ Aber ich will nicht gewinnen, ich will ankommen und schließe mich der Gruppe an.
Hinterher geht es zunächst besser. Es geht auf Havelberg zu. Havelberg ist der Punkt für die Entscheidung. Von hier sind es nur ein paar Kilometer bis zum Bahnhof. Hinter Havelberg ist bis Paulinenaue erstmal kein Bahnhof in Sicht – und Paulinenaue ist dann schon gefühlt kurz vor dem Ziel. Meine Gruppe zieht mich durch Havelberg, ich fühle mich bei den Jungs und Mädels gut aufgehoben. Sie sehen es nicht zu verbissen, machen aber auch keine Spazierfahrt. Auf dem Weg nach Berlin. Hundert Kilometer, bekannte Wege. Auch das hilft.
Der physische Windschatten erlaubt mir, zwischendurch immer mal wieder die Beine zu entlasten, wichtiger aber ist der mentale Windschatten, in der Gruppe mitzufahren, Leute zu haben, die mal nach einem sehen und einfach dranzubleiben. Wie im Flug ziehen die Dörfer vorbei. In Paulinenaue, 50km vor Berlin, gibt es nochmal eine kleine Pause, dann geht es über den Radweg nach Nauen und in den Stadtverkehr bei Falkensee und Spandau. Das ist anstrengend, ich spüre die Reserven schwinden, spüre mein Knie bei jeder Kurbelumdrehung – aber es sind nur noch zehn Kilometer, dann fünf. Gatower Straße. Die Sonne geht unter und wir biegen wenige Minuten später am Wassersportheim ein.
Es ist geschafft.
Startnummer vom Fahrrad abmachen, den Stempel holen bei der Zeitmessung. Genau Ergebnisse kommen noch, aber es sind wohl so um die 10:50h. Ich bin wie Trance. Ich erkenne einige Leute vom Morgen wieder, aber zwischendurch werde ich plötzlich von meiner Rennradfreundin Karin begrüßt – die ist nicht mitgefahren, ich hatte sie hier nicht erwartet.
Erst als ich zur Ruhe komme, im Warmen am Tisch sitze, ein Malzbier trinke, eine Suppe esse kommt es über mich. Ein Schwall von Emotionen. Ich hab’s geschafft! Ich hab es geschafft, weil ich den Willen hatte durchzuhalten und weil mir andere Teilnehmer, die ich bis dahin nie gesehen hatte, geholfen haben durchzuhalten.
Ich will das nicht übertreiben: Allein auf dieser Veranstaltung sind am Ende wohl weit über 200 Radler angekommen. Es sind diverse dabei, die fahren 400er oder 600er Brevets, haben Paris-Brest-Paris hinter sich. Ich bin nicht stolz auf mich, weil ich glaube etwas geleistet zu haben, was kaum ein anderer schafft, aber für mich war es die längste Strecke, die ich in meinem bisherigen Leben am Stück auf dem Rad gefahren bin, das auch in respektabler Zeit. Und noch etwas: Im letzten Jahr mußte ich erst meine Nordkap-Reise abbrechen, bin dann wegen der schlechten Bedingungen bei Hamburg-Berlin nicht gestartet. Ich habe jetzt meine Barcelona-Reise hinter mir und schließlich noch Hamburg-Berlin absolviert und komme meinem Jahresziel von 12000km auf dem Rad auch schon recht nah: es fehlen nicht einmal mehr 700km. Auch wenn ich kein abergläubischer Mensch bin, aber das war für mich das Gefühl, einen Fluch gebrochen zu haben.