Jura 2012: La Côte-aux-Fées – Nyon

Das heutige Frühstück ging über französische Verhältnisse deutlich hinaus, auch wenn ich in der Schweiz doch gerne noch ein Müesli gehabt hätte. So war ich also guter Dinge, als ich losfuhr. Den Anstieg hatte ich bereits gestern hinter mich gebracht und war froh drum. Ich hatte etwas Zeit, um auf Touren zu kommen, dann lag erstmal eine schöne Abfahrt nach Vallorbe vor mir. Zuvor allerdings freute ich mich noch über die kleinen Schneefelder neben der Straße. 17°C, Sonne, gut über 1000m Höhe über Null – und ein Foto von der Speedmachine im Schnee. Herrlich! Und diese Abfahrt! Kilometerweise nur bergab, teils über 70km/h – viel schneller ging es nicht wegen der Straßenverhältnisse und der häufigen Kurven – und zwischendurch grandiose Ausblicke auf das Tal und die in der Ferne auf der anderen Seite liegenden Alpen.

Nach einigen Kilometern durch das Tal folgte der nächste Anstieg. Hier war wieder eine mal eine Abkürzung über einen nicht asphaltierten Weg angesagt, laut Karte brachte dies einiges – in der Realität aber vor allem Ärger. Zunächst war der Weg gut fahrbar, damit hatte ich genug Strecke bergauf gemacht, als daß ich nicht mehr umdrehen wollte (und die ganzen Höhenmeter nochmal auf der Straße einsammeln), als der Weg wegen Baumfällarbeiten langsam gröber wurde. An Stellen mit zweistelligen Prozentzahlen war an Fahren nicht mehr zu denken.

Schlimmer noch: es folgte eine zerwühlte schlammige Strecke, durch die ich das Rad schieben mußte. Der Schlamm haftete an den Reifen, quoll seitlich aus den Schutzblechen und triefte auf Schwinge und Bremse. Letzteres erwies sich als Zeitfresser: Ich nutzte Teile meines Wasservorrates und Wasser aus einem angrenzenden Rinnsal, um das Rad vom Schlamm zu befreien. Der Schlamm war durschsetzt mit Kies. Einige dieser kleinen Steinchen fanden über die obere Öffnung der Bremse (wo die Klammer zum Halten der Beläge steckt) ihren Weg in die Bremse. Ich brauchte einige Zeit mit Werkzeug und Pinzette, um die Kiesel aus meiner BB7 zu bekommen. Zar funktionierte sie beim Testen aus mit den Kieseln, ich wollte aber keinesfalls riskieren, daß die Bremse auf einer der folgenden Abfahrten zum Problem wird.

Meinen Wasservorrat konnte ich zum Glück kurz danach am Ende der Steigung – und zurück auf asphaltiertem Grund – an einer Quelle auffüllen. Quellen sah ich hier einige am Wegesrand, so machte ich mir um Flüssigkeitsvorräte wenig Sorgen. Beide Bremsen funktionieren normal und waren mit reichlich Wasser auch vom sonstigen Dreck der letzten Tage befreit. Die Restfeuchtigkeit war auf dem Gefälle zum Lac du Joux innerhalb weniger Sekunden verdampft.

Nach dieser Strapaze erholte ich mnich am Lac du Joux. Ich aß belegte Baguettes, ein Rosinengebäck und trank einen Isodrink. Dabei saß ich mit Blick über den langgezogenen See bei fast 20°C windgeschützt in der Sonne. Der Ärger über den unbfahrbaren “Radweg” verflog langsam, auch wenn das in dieser Form selbst mit dem Mountainbike schon ein hartes Stück gewesen wäre.

In meiner Erinnerung der Routenplanung hatte ich verdrängt, daß zwischen Lac du Joux und Nyon nochmal ein echter Hammer kommt: der Col du Marchairuz. 300 Höhenmeter auf 4km sagt das Schild und es geht gleich richtig zur Sache. Es gibt ein paar flachere Abschnitte, aber größtenteils geht die Sache bei acht bis neun Prozent über die Bühne. Die Paßstraße ist deutlich stärker befahren als die ruhigen Straßen auf den letztenb Anstiegen, vor allem nerven die Motorräder, deren unglaublicher Lärm schon auf Kilometer im Voraus durch die sonstige Ruhe schneidet. Die gleichen Fahrer sieht man oft mehrfach, weil sie offenbar die Straße zum Spaß einige male hintereinander hoch und runter fahren. So sehr ich den Spaß nachvollziehen kann – aber kann man diese Dinger nicht irgendwie leiser bauen? Das ist unerträglich!

Vor dem eigentlichen Paß zweigt die Veloroute 7 auf einen asphaltierten – für den allgemeinen motorisierten Verkehr gesperrten – Weg ab. Zwar versucht einen die Veloroute damit mal wieder um einen “echten” Paß zu betrügen, allerdings spart man nochmal weitere 100 oder mehr Höhenmeter und entgeht dem Lärm. Also nutze ich dieses Angebot, auf der Karte sieht der Weg nach Nyon auf diese Weise auch kürzer aus, als über den Rest des Col du Marchairuz. Auf 1300m Höhe liegen seitlich jetzt viele kleine und größere Schneefelder, bei Sonne und 16°C bis 17°C ein netter Anblick.

Ein Anblick, der nicht vermuten läßt, was folgt. Zuerst sind es nur ein paar Meter, wo sich ein Schneefeld über den Weg zieht, fast kann man schon durchfahren. Es geht bergab, grüne Wiesen säumen den Weg. Was soll schon passieren? Nach einigen Kurven wieder Schnee. Dann mehr Schnee. Nach eineinhalb Kilometern beschließe ich umzukehren – hier ist noch kein Durchkommen. Zurück geht es zur Abzweigung und zur befahrenen Paßstraße.

Ich kurbele auf gut über 1400m Höhe nach oben. Als Belohnung gibt es mein zweites Paß-Foto, diesmal auch mit einer ernstzunehmenden vierstelligen Höhe. Und dann kommt die Entschädigung für alles, was mir an diesem Tag widerfahren ist: Fast 1000 Höhenmeter am Stück geht es den Berg hinunter. Aussicht auf den Lac Leman (Genfer See), inklusive Jet d’Eau (die große Fontäne in Genf), Aussicht auf die Orte im Tal und Aussicht auf die Alpen auf der anderen Seite des Sees. Gigantisch! Fast ohne zu treten geht es mit hoher Geschwindigkeit meinem Ziel entgegen, konzentriertes Fahren ist allerdings angesagt, zum Genießen der Aussicht halte ich lieber zwischendurch an.

In Nyon, meinem heutigen Tagesziel, kümmere ich mich zuerst um eine Unterkunft. Es gibt – auf Empfehlung – ein nettes Bed&Breakfast, womit ich für die Gegend erfreulich preiswert davonkomme in den kommenden zwei Nächten. Das ganze ist in einem schönen Farm-Haus nur ein bis zwei Kilomneter südlich von Nyon, so daß ich abends noch den Ort mit seiner wunderschönen Promenade am See und seinen vielen Restaurants genießen kann, fernab der Straße eine ruhige Bleibe habe und am nächsten Tag direkt an der Radroute nach Genf bin, ohne erst durch den Ort zu müssen. Die Besitzer sind zweisprachig, so daß ich mich über eine problemlose Kommunikation und etwas Smalltalk freue.

Jura 2012: St. Ursanne – La Cote-aux-Fées

Das Frühstück bemaß sich eher an französischen Verhältnissen, dennoch versuchte ich so gut wie möglich vorzubauen – daß heute noch einige Höhenmeter vor mir stehen würden wußte ich ja. Die Taschen waren fertig gepackt und so verlor ich nach dem Zahlen des Hotels nicht viel Zeit. Mein GPS lud die Route noch, während ich die 200m zu den Schildern roltle, wo ich die Veloroute 7 verlassen hatte. Dank der hervorragenden Ausschilderung ist das Navi auf Schweizer Radrouten nahezu unnötig. Nahezu. Hätte ich die Route vor dem Losfahren angeschaut, hätte ich gesehen, daß diese jetzt einen 2-km-Bogen am Doubs entlang macht, um dann exakt wieder an der Stelle vorbeizukommen, wo ich vom Hotel gestartet war. Seis drum – etwas flache Strecke zum Einrollen ist ja auch gut. Denn hinter St. Ursanne kam gleich die nächste dicke Steigung.

Mit sechs bis sieben km/h in den untersten Gängen erklomm ich den Berg. Immer wieder gab es schöne Ausblicke in das Tal. Doch die Steigung schien endlos. Zwei, drei mal mußte ich eine kurze Pause einlegen, da ich das Gwefühl hatte zu überhitzen: Durch die geringe Geschwindigkeit und den Schutz der Bäume gibt es keinen nennenswerten Fahrtwind zur Kühlung. Die mühsam aufgebrachte Sonnencreme landete vermischt mit Schweiß in den Handschuhen. Aber ich freute mich auf die Abfahrt.

Diese kam jedoch nicht. Zunächst einmal bog die Route wieder auf einen nicht asphaltierten Abschnitt ein. Dieser war nicht so gut fahrbar und da es nachts geregnet hatte auch noch feucht – da sind dann selbst kurze Rampen mit 10% Steigung eine fahrerische Herausforderung, weil das Hinterrad immer kurz vor dem Durchrutschen ist.

Als ich das hinter mir hatte und wieder auf der Straße war, wurde mir klar, daß ich mich auf eine Hochebene gerbeitet hatte. Kleine Steigungen und kleine Abfahrten folgten, die Höhe hielt sich meist so um die 1000m. Die Abfahrten hatten vielleicht so um die drei bis fünf Prozent, dafür wehte hier ein beträchtloicher Gegenwind, so daß ich da kaum über 30km/h schnell wurde.

Im einem der Orte prangte ein Schild Boulangerie – ich bog ab und gönnte mir zwei belegte Baguettes, einen Cookie und etwas zu trinken, dann ging es weiter. Nach dem Abbiegen von der Hauptstraße traf ich einen Tourenradler. Der erste, den ich auf der Veloroute sah. Ich hätte erwartet, daß mir ab und an einer entgegenkommt, denn aus der anderen Richtung ist nicht nur die Chance größer sich zu begegnen, die Route gilt von Nyon in Richtung Basel auch als etwas leichter – was für mich wohl auch bedeutet, daß ich seltener die Bedingungen für Abfahrten vorfinden werde, wie ich sie auf den Anstiegen hatte. Der Radler, den ich traf, war Schweizer und folgte nur zufällig ein Stück der Veloroute 7. Er fuhr große Mengen Gepäck auf dem Rad, denn er war auf einer Testtour für eine anstehende mehrmonatige Radreise durch Patagonien und Feuerland. Als er davon erzählte dürfte für kurze Zeit der Neid in meinen Augen aufgeblitzt sein.

Wir fuhren wenige Kilometer noch zusammen, dann trennten sich unsere Wege wieder. Ein kurzer und leichter Schauer zog über uns hinweg – und pünktlich als es wieder trocken wurde fand ich die nächste Möglichkeit, mir ein Sandwich zu besorgen, die ich sofort nutzte. 62km hatte ich hinter mir, rund 1400 Höhenmeter. Aber jetzt ging es erstmal verhältnismäßig flach weiter durch ein Tal, teilweise auf wunderschönen Radwegen entlang des Wassers. Nur kurze Anstiege folgten, aber noch ein zweiter kleiner Schauer.

Da es im Tal so gut voranging, beging ich gegen Ende meiner Etappe bei etwa 100km auf dem Tacho dann den Fehler an einem Ort mit Hotels und Restaurants vorbeizufahren, weil es ja nicht so weit zum nächsten Ort war und 10 oder 20 km ja nun wirklich kein großes Ding sind und ich unter hundert Kilometer für die Etappe bis nach Nyon vor mir haben wollte und es ja auch erst kurz nach 18 Uhr war. Kurz nach dieser Entscheidung kam das Schild: 290 Höhenmeter auf den nächsten 4km. Mit freundlichen 7km/h hing ich dann eine Weile in dieser Steigung fest.

Zum Glück aber hatten die Hotels heute wieder offen und so fand ich kurz nach dem Ender der Steigung in La Cote-aux-Fées ein gemütliches kleines Hotel, in dem es auch eine ordentliche Speisekarte, geeignet für meinen Hunger, gab. Ich war dann froh den vermeintlichen Fehler begangen zu haben, so startet die nächste Etappe nicht gleich mit dieser Hammersteigung und das Hotel war deutlich ruhiger gelegen als die Hotels im Ort davor an der befahrenen Hauptstraße.

Jura 2012: Freiburg-Basel-St. Ursanne

Langsam gewöhne ich mich an den Tourenrhythmus und so war ich nicht allzuspät wach und dennoch ausgeschlafen. Auch Jana war bald wach und ich bekam noch ein Frühstück serviert. Neben dem Packen änderte ich telefonisch noch die Reservierung für meine Rückfahrt und verließ Freiburg um kurz nach zehn Uhr.

Bei der Ortsausfahrt traf ich einen weiteren Radler, Kyle, der gerade mit neuen Taschen und dem Gepäckträger an der Gabel für seine große Reise experimentierte. Da wir einen Teil des Weges gemeinsam fuhren, hatte ich für die kommenden Kilometer einen Gesprächpartner, der sich auch als ortskundig erwies. Meine Planung (und auch Kyles Route) verlief hinter Freiburg zunächst durch hügeliges Gelände. Es sollte mir ein sanfter Vorgeschmack sein für das, was mich hinter Basel erwarten würde.

Irgendwann trennten wir uns und ich fuhr in die Ebene, um bei Neuenburg den Rhein zu überqueren. Anschließend musste ich diverse Kilometer auf eine Straße zurücklegen, die ohneFeiertg vermutlich unerträglich verkehrsreich gewesen wäre, bog dann aber bald auf einen gut ausgebauten Kanalradweg ein, der mich bis nach Basel bringen sollte.

Auf dem Weg machte ich noch Halt, trank etwas, konnte allerdings als einzige Nahrung ein Stück Kuchen erwerben. Nun denn, es reichte bis Basel. Vor der Einfahrt in die Stadt trad ich noch zwei Schweizer Liegeradler auf Nazca Fieros.

Nach ein paar Metern auf deutschem Boden ereichte ich die Schweiz. Als erstes besorgte ich mir Franken, dann ließ ich mich auf der Terrasse eines Restaurants nieder. Ich wurde gleich mit zwei wertvollen Erfahrungen konfrontiert: Erzählt kriegt man viel über die Schweizer Preise – wenn man das erste mal in seinem Leben für eine Portion Penne runde 18 Euro bezahlt schuckt man trotzdem. Und: Die Nudeln gab es nur, weil sie Mitleid mit dem armen Velopiloten hatten, normal wäre um diese Uhrzeit (kurz vor 15 Uhr) die Küche geschlossen gewesen und ich hätte nichts Warmes zu essen bekommen. Wenn das schon mitten in Basel passiert, dann sollte ich in den folgenden Tagen auf der Hut sein, wann ich beschließe zu essen.

In Basel selbst gab es einige kurze Rampen, außerhalb ging es auf der gut ausgeschilderten Veloroute 7, der ich nun bis Nyon folgen will, zunächst harmlos zu. Nach einer weiteren kleinen Kuchen- und Apfelschorlepause geht es dann mit dem Challpass das erste mal ans Eingemachte. 360 Höhenmeter auf 7km. Klingt zunächst harmlos. Allerdings ist die Steigung nicht gleichmäßig verteilt und zwischendurch geht es auch nochmal 60 Meter wieder hinunter. Am Pass biegt die Veloroute auf einen (nciht apshaltierten, aber fahrbaren) Waldweg ab, aus dem geht es irgendwann auf eine schöne kurvige Bergabstrecke.

Auf einem vergleichsweise flachen Abschnitt (kaum lange Steigungen, selten über 5% – weitab von den sieben bis neun Prozent davor über längere Abschnitte) wechsele ich so oft zwischen Frankreich und der Schweiz hin und her, daß ich aufgebe meine heutigen Grenzübertritt zu zählen. Stattdessen halte ich die Augen nach einem Hotel oder ähnlichem offen – allerdings erfolglos: “Fermé Lundi et Mardi” (Dienstag und Mittwoch geschlossen – oder war es Montag und Dienstag? Egal – jedenfalls nicht auf). Ich spekuliere auf das offizielle Ende der ersten Etappe des Jura-Radwegs. An einer Einmündung geht es runter nach Courgenay – 2km bergab, die ich wieder bergauf muss, weil auch dort keines der Hotels offen hat. Es wird spät, Dämmerung setzt ein, die Temperatur fällt und ich bin ziemlich fertig. 8km bis St. Ursanne klingt nicht schlimm. 260 Höhenmeter auf 4km, einiges davon im Bereich deutlich über 10% fordern mich in diesem Zustand. Ich hoffe darauf, daß ich in St. Ursanne Glück habe, male mir schon aus, an Privathäusern zu klopfen und nachzufragen. Ich habe viel Zeit für diese Horrorvorstellungen auf dem Weg zum Pass, der mit einem freundlichen Tour-de-France-Schildchen gekennzeichnet ist.

Pass ist gut: Danach geht es nämlich bergab. Meine Schussfahrt wird neben Serpentinen durch die vor mir fahrenden Autos gebremst. Ein paar einzelne Wassertropfen enden zum Glück nicht in echtem Regen.

In St. Ursanne ist das zweite Hotel, an dem ich vorbeikomme (abseits meines eigentlichen Weges) geöffnet. Ich nehme ein Zimmer, kriege noch etwas zu essen und zu trinken – und bin glücklich, daß das jetzt so ausging. Und ich bin totmüde.